Herrnhuter Losungen 5. April 2020    

Lobt Gott in den Versammlungen (Psalm 68, 27)

Als die große Menge, die auf das Fest gekommen war, hörte, dass Jesus nach Jerusalem kommen werde, nahmen sie Palmzweige und gingen hinaus ihm entgegen und schrien: Hosianna! Gelobt sei der, der da kommt im Namen des Herrn, der König von Israel (Joh 12, 12-13)

 

Liebe Leser*innen,

Mit dem Ereignis, über das unsere Tageslosung berichtet, beginnt das finale Projekt in Jesu Lebensgeschichte. Er geht nach Jerusalem, um dort das Passahfest zu feiern. Die Hauptstadt wimmelt vor Menschen, das römische Militär ist in höchster Alarmbereitschaft. Zeiten wie diese sind wie gemacht für Aufstände und Revolutionen, und darum immer gefährliche Zeiten für die mächtigen, meist ungeliebten Herrn. Auch Jesus war von wohlmeinenden Menschen gewarnt worden, seine Idee besser fallen zu lassen. Schnell kommt es in überhitzten Zeiten zu falschen Einschätzungen und gefährlichen Überreaktionen.

Doch zuerst scheint es, ganz gut zu gehen. Die Leute laufen ihm entgegen und jubeln Jesus und seinen Begleiter*innen zu: Willkommen, auf dich haben wir gewartet! Sie sind euphorisch und ziemlich sicher, dass jetzt bessere Zeiten anbrechen. Manche erinnern sich an andere Einzüge in ihre Stadt: Der Cäsar nach der gewonnenen Schlacht; wer da nicht gejubelt hätten, den hätten die Spitzel bei den Römern denunziert. Sie übersahen die Details:  Dieser Mensch Jesus sitzt auf einem Esel, nicht auf dem geschmückten Schlachtross. Ihn begleiten keine Legionäre in prunkvollen Rüstungen, sondern einfache Menschen aus Galiläa und Umgebung, Lumpenpack in den Augen der vornehmen Hauptstädter*innen. Er führt auch keine Gefangenen in Käfigen mit wie wilde Tiere; die, die ihm folgen, glauben an ihn und seine Mission. Manche kamen auch nur, um Spaß zu haben, ein wenig Abwechslung, diesen Kasper kannten sie noch nicht, der trat zum ersten Mal auf dieser Bühne auf. Sie unterschätzten die Situation.

Darum ist auch die Enttäuschung groß und die Wut bestialisch als man merkt, dass man sich geirrt hat. Jesus war nicht der, für den sie ihn gehalten hatten. Wofür auch immer sie ihn gehalten hatten. Nun schreien sie statt Hosianna: „kreuzige ihn“. Bald wird Jesus zur Schau gestellt, statt Lorbeerkranz trägt er eine Dornenkrone, und sie begrüßen ihn mit Spott. Als die Römer ihren Auftrag vollendet haben, sind seine Nachfolger geflohen, und er wähnt sich von Gott verlassen. Karfreitag.

Was damals noch keine*r ahnen konnte: dass Gottes Projekt noch nicht zu Ende ist. Das Finale kommt noch. Es wird Ostern.

Unsere Tageslosung lädt ein, auf unsere Projektionen zu schauen. Was legen wir in Jesus hinein? In meiner feministischen Zeit war ich sicher, dass Jesus der erste Mann war, der Frauen verstand und ihre Stärke ertrug, selbstverständlich ausgestattet mit allen Seelenanteilen, die frau sich so wünscht für einen Mann: friedlich und bindefähig, liebevoll und ganzheitlich orientiert. Hätte es das damals schon gegeben, hätte ich geschworen, er  hat vegan gelebt. 

In der Kirchengeschichte wird Jesus zum Lamm Gottes, das allerlei Projektionen rund ums Schlachten auf sich zog. Im Barock galt es, das Lamm Gottes in widerlicher Blutmystik zu verehren. Konstantin der Große ließ die Truppenfahnen mit Kreuzen bemalen und nach seinem Sieg, das Christentum zur Religion der Mächtigem erheben. Seitdem wurden unzählige Menschen im Namen des siegreichen Lamms abgeschlachtet, in Kreuzzügen, Religionskriegen und Eroberungsfeldzügen. Ich persönlich werde niemals Osterlamm essen und kriege auch das putzige Rührteigosterlämmchen nur schwer durch den Hals.

In modernen Produktionen wie das „Leben des Brian“ wird Jesus als Depp vorgeführt, was Monty Pythen und seinen Investoren Millionen eingebracht hat. Auf einen Einzug in Jerusalem wird hier verzichtet, das verblödete Volk kommt selbständig zu Brians Schlafzimmerfenster gerannt, um sinnlose Heilsbotschaften zu empfangen. Ich bin durchaus Freundin kluger Satire, dennoch habe ich angesichts dieses Films gespaltene Gefühle.

Leben geht nicht ohne Projektionen. Kleine Kinder lernen, ein Bild von einer guten Mutter zu verinnerlichen, an das sie sich klammern können, wenn die Mutter abwesend ist oder hartherzig reagiert. So fühlen sie sich trotz ihrer Angst, sicher genug, loszulaufen zu können und werden so Schritt für Schritt zu selbstständigen Menschen Das abgespaltete Bild der bösen Mutter werfen wir dann auf andere Menschen, weshalb es im Märchen immer die Stiefmutter ist, die quält. 

Das, was ich an mir nicht leiden kann oder das, was ich mir nicht zutrauen, entdecke ich in anderen und wähle ihn oder sie als mein Feindbild oder auch als mein Idol. So kann man sich in der Welt halbwegs orientieren, Verzerrungen und falsche Einschätzungen inklusive. 

Wir wählen unsere Lebenspartner*innen aus, indem wir in den jeweils anderen unsere eigenen Wünsche hineinlegen und fantasieren, er/sie wäre genau der, der dazu gemacht ist, unsere Sehnsucht zu stillen. Wie rosarot die Brille des ersten Verliebtseins ist, entdecken wir dann allerdings meist schneller als uns lieb ist. 

Auch unser Glaube kommt ohne Projektionen nicht aus. Wie wir uns Gott vorstellen, hat viel damit zu tun, wie es um den Erwerb des Urvertrauens in unserem Elternhaus stand, und Menschen, denen die Pfarrer den Katechismus eingeprügelt haben, haben oft schlimme Gotteskomplexe entwickelt.

Schließlich ist Jesus selbst eine Projektion. Die Projektion Gottes, in der ER sich von uns Menschen anschauen lässt.

In der Geschichte vom Palmsonntag wird deutlich gemacht, dass allem Triumphalismus mit höchster Skepsis zu begegnen ist. Anschauungsbeilspiel dazu sei der Einzug Hitlers in Wien nach dem Einmarsch in Österreich. Übrigens bewusst inszeniert nach des Vorbild des Palmsonntag. Der volksnahe Führer holt sein Vaterland heim ins Reich, das in seinen Träumen die Welt umspannt und komfortablen Lebensraum für Herrenmenschen schafft. Seine Wagenkolonne besteht aus Massen von Wehrmachtssoldaten, die ihre aufgeschulterten Gewehre selbstbewusst in den Himmel ragen lassen. Welches Grauen die Faschisten aller Nationen über die Völker brachten, ist bekannt. Übrigens: ihr Name leitet sich von den Rutenbündeln römischer Aristokraten ab, die damit ihre Machtbefugnis zum Ausdruck brachten. Nicht allzu weit entfernt davon ist der Brauch, siegreiche Feldherrn bei ihrer Rückkehr mit Palmwedeln willkommen zu heißen. Gott sei Dank erwähnt die Tageslosung ein Detail, das unseren Blick hier kritisch schärfen kann: „Hosianna“ wird gerufen als Jesus sich zeigt. „Gott hilf uns“, wir hier gefleht. Wer solche Worte in den Mund nimmt, weiß sich letztlich doch geschützt vor eigenem Größenwahn.

Wo in der Bibel Gott sein Gesicht zeigt, hat das mit hoffnungslosen Fällen zu tun. Das widerspenstige Sklavenvolk, das er sich aussucht, um an ihnen zu erproben, was Treue heißt; die uralte Sarah und ihren auch eher gebrechlichen Mann, in deren Vitalität er den Segen für alle Völker legt; die junge Maria, die ihrem Verlobten sagen muss, dass sie jedenfalls nicht von ihm schwanger ist. Schließlich: der Wanderprediger aus Nazareth, der an seiner eigenen Botschaft scheitert. Er endet am Galgen, weil er wirklich geglaubt hat, dass die Liebe das Böse besiegen kann. Gescheitert sind auch die Frauen und Männer, die seinem Gott zugetraut hatten, die Gesetzte der Welt außer Kraft zu setzen. Sie scheitern an ihrer Angst, ihrer Scham, ihrer mangelnden Fantasie. Deshalb laufen sie alle weg als sich herausstellt, dass auch sie eine falsche Vorstellung davon gehabt haben, wer ihr Herr war. 

Aber am Ende der Geschichte wird dieses Scheitern als die große Vision des Lebens erkennbar. Der Gekreuzigte wird auferweckt. Außerdem wird es auch bald Pfingsten. 

Um jedoch sogleich aller christlichen Verklärung des Schmerzes zu wehren: Scheitern tut weiterhin weh, Märtyrertum muss schon einen wirklich guten Grund haben, sonst sei es besser zu unterlassen. Frauen, die die Schläge des Patriarchats aushielten um Gottes und des Vaterlandes willen, hätten besser den Aufstand gewagt für das Leben ihrer Söhne. 

Wie gehen wir nun mit der fortwährenden Enttarnung unserer religiösen Projektionen um ? Halten wir es aus, dass unser Glaube immer nur wie ein Kaleidoskop erfassen kann, wer Gott ist. Zersplittert, scharfe Schnittkanten, viele Teile, die sich immer neu zusammensetzen, unser ganzes Leben lang. 

Angesichts der vielen ganz und gar nicht triumphalen Erfahrungen mit den dunkel bleibenden Gesichtszügen Gottes, behelfen sich manche damit, wahlweise Gott für tot zu erklären oder ihn umgeben von Hosianna singenden Engeln im himmlischen Thronsaal zu platzieren, die Weltkugel souverän in der Hand haltend. Beide Male wird Gott von der Wirklichkeit der Welt abgespaltet, beide Versuche mit dem gekreuzigten Gott fertig zu werden, sind zum Scheitern verurteilt.

Ich schlage vor: immer wenn es uns zu schwer wird mit der nur splitterhafte Einsicht in Gottes Geheimnis, und wir befürchten, die Geduld zu verlieren, die es braucht, um auf das finale Siegen des Lebens zu hoffen, dann sollten wir uns zusammensetzen im Kreis der Schwestern und Brüder. Ganz wie man es früher mit den alten Projektoren zur Diashow machte. Alle schauen sich die Bilder gemeinsam an und tragen ihre Einsichten bei, wie sie das erleben, was es da zu sehen gibt. Im Gespräch, im Austausch, in der Kommunikation entdecken wir einander Gesichter Gottes, die der eine und die andere so noch gar nicht wahrgenommen hat. Das wird trösten und stärken.

Aber wenn man das Dia dann gegen das Licht hält, wird man sehen, dass es ein Umkehrfilm ist. Das Licht ist im Negativ dunkel und das Dunkle ist im Positiv hell. Mithin: Zu mehr als einem „broken Hosianna“ sind wir nicht in der Lage. Ich glaube, diese Bescheidenheit tut aber gut, der Kirche und uns persönlich.

Diesen Palmsonntag feiern wir in Zeiten von Corona. Versammlungen, in denen wir Gott loben können, so wie es die Tageslosung empfiehlt, gibt es hierzulande derzeit nicht. „Broken Hallelujahs“ werden dennoch in die Welt gehen, wenn Ostern wird. Und der Himmlische wird sich daran freuen.

Bleiben Sie gut behütet.

Ihre Anke Augustin